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Lesenswertes


Volkenandt, Priv.-Doz. Dr. med.Matthias
Medizinische Fachvorträge: Glanz und Elend der Vortragskunst
Deutsches Ärzteblatt 95, Heft 36 vom 04.09.98, Seite A-2081 [THEMEN DER ZEIT: Aufsätze]

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Welcher Teilnehmer medizinischer Kongresse hat nicht den Redner erlebt, der auf die Bühne zum Pult stolpert, zunächst das Mikrofon anhustet und beklopft, den Signalknopf zur Diaprojektion sucht, den Laserpointer eine Zeitlang ausprobiert und sich bei allem scherzhaft entschuldigt, dass gerade er als Wissenschaftler technisch so unbegabt sei? Der Vortrag beginnt mit den Worten: "Das erste Dia, bitte!" Es wird dunkel, und der Redner kehrt von nun an dem Publikum den Rücken zu. Ein völlig überladenes, viel zu buntes, ungeputztes, aber englischsprachiges Dia erscheint, zahllose ähnliche folgen. Der Redner bedauert ausgiebig, dass er leider aufgrund der Kürze der Zeit die Komplexität der im Dia dargestellten Sachverhalte nicht angemessen entfalten könne. Auch sei es schade, dass man vermutlich in der letzten Reihe den Text nicht entziffern könne. Unkontrolliert, aber unaufhörlich rast dabei der Laserpointer über die Projektionsfläche. Die Zeit wird maßlos überzogen. Der Vorsitzende ist verzweifelt. Erst als trotz eines Versuches kein weiteres Dia mehr erscheint, wird der Vortrag beendet. Die Lichter gehen an. Die Zuhörer erwachen. Es ist vorbei.
Schlechte Vorträge sind schlimm! Sie schaden der Sache, die nicht vermittelt wird. Sie schaden dem Veranstalter, der einen interessanten Kongress versprochen hat. Sie schaden dem Vortragenden, der sich blamiert. Sie schaden den Zuhörern, die oft unter erheblichem zeitlichen und finanziellen Aufwand am Kongress teilgenommen haben.
Voraussetzung für einen guten Vortrag ist, dass man einen guten Vortrag halten will. Manche Redner scheinen dies nicht zu tun. Ihr Ziel ist nicht, dass der Hörer Neues lernt, sondern dass er angesichts der ausgebreiteten Wissensfülle in Ehrfurcht erstarrt. Wer aber vor allem eigene Intellektualität vermitteln will, verfehlt das Vortragsziel, missachtet das Publikum und sollte nicht reden. Es ist nicht nur das klug und wissenschaftlich, was unverständlich bleibt.
Ein schlechter Vortrag beginnt und verläuft außerhalb des Erfahrungs- und Kenntnisbereichs der Zuhörer. Ein sehr schlechter Vortrag beginnt ebenfalls dort. Der Redner stellt die Dinge dann nur noch komplizierter dar. Die Zuhörer werden verwirrt, ihr Kenntnisstand nimmt ab.
Ein guter Vortrag hingegen beginnt im Erfahrungs- und Kenntnisbereich seiner Zuhörer. Danach werden neue Gedanken in einer Weise vorgestellt, der die Teilnehmer folgen können. Der Vortrag endet mit einem erhöhten Wissensniveau der Zuhörer. Damit dies gelingt, müssen vor jedem Vortrag die Adressaten genau analysiert und der Vortrag entsprechend gestaltet werden. Dies ist der Grund, warum auch der erfahrene Redner, der bereits vielfach über sein Thema sprach, jeden Vortrag erneut und gründlich vorbereiten muss.
Obwohl Anfang und Schluss eines Vortrages nur jeweils etwa zehn Prozent der Vortragszeit in Anspruch nehmen, kommt ihnen fast die gleiche Bedeutung zu wie dem Hauptteil. Hier besteht die Chance, in sehr kurzer Zeit sehr viel zu bewirken.
Die große Bedeutung des Anfangs ist eine psychologische Grundgegebenheit. Es ist hilfreich und zeitökonomisch, rasch zu entscheiden, ob man sich einer Person oder einer Sache weiter zuwendet oder nicht. Der Beginn eines Vortrags weckt oder mindert das weitere Interesse, da sich jeder Redner zu Beginn der vollen Aufmerksamkeit seiner Zuhörer sicher sein kann. Erste Voraussetzung des Gelingens eines Beginns ist, dass er stattfindet und nicht, wie so oft, schlichtweg ausfällt: Der Redner steigt zum Pult, wendet sich vom Publikum ab, lässt verdunkeln und beginnt, seine schlechten Dias zu zeigen. Richtig und wichtig wäre folgendes:
- Vor Beginn des Sprechens geht es darum, dem Publikum für einen Moment in die Augen zu blicken und Kontakt aufzunehmen. Wer aufgeregt ist, braucht nicht den Ranghöchsten oder den Kongresspräsidenten anzusehen, sondern lässt den Blick über das Auditorium schweifen.
- Nach diesem "Augenblick" sollten einige Sätze frei gesprochen werden. In diesen ersten Sätzen stellt der Redner das Thema und seine Bedeutung, aber auch sich selbst vor. Die Zuhörer wollen nicht nur etwas über das Thema, sondern auch über den Vortragenden lernen. Die Verdunkelung des Raumes beginnt frühestens nach den einleitenden Sätzen. Mit den technischen Details (Mikrofon, Knopf zur Diaprojektion, Laserpointer) muß sich der Redner vor Sitzungsbeginn vertraut machen.
Dias sollen helfen nicht stören
Auch dem Schluss des Vortrags kommt große Bedeutung zu. Hier sollten kurze zusammenfassende Gedanken und Ausblicke formuliert werden, die dem Zuhörer im Gedächtnis bleiben. Es ist vorteilhaft, auch den Schluss ohne Dia und bei voller Raumbeleuchtung zu gestalten. Sprachlich geschieht die Beendigung der Projektion weniger günstig durch die übliche schroffe Formel: "Das Dia kann weg!", sondern durch die Aufforderung: "Bitte Licht!" Falls am Schluss ein Dia verwendet werden soll, muss es äußerst gut und übersichtlich gestaltet sein, und der Redner muss dezidiert darauf eingehen. Keinesfalls sollte beim Schlusswort ein nicht mehr aktuelles Dia im Dunkeln stehen bleiben. Es lenkt die Zuhörer ab. Die Chance des Schlusses wird vertan, wenn der Redner selbst erst durch den vergeblichen Versuch weiterer Projektion bemerkt, dass er am Ende ist ("Das nächste Dia bitte! Ach ja, es kommt keines mehr. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit!").
Dias - es gibt wohl kaum einen Bereich bei medizinischen Vorträgen, in dem so viel Unfug getrieben wird. Dias sollen helfen, nicht stören. Es ist absurd zu meinen, dass durch immer mehr, immer vollere und immer buntere Dias immer mehr Dinge immer besser vermittelt werden. Die exzessive visuelle Gestaltung der Medizin Vorträge ist eine Unsitte. In der Karikatur wird der Medizinprofessor abgebildet, der auf dem Sterbebett ruft: "Letztes Dia, bitte!"
Der gezielte und sparsame Einsatz von Dias kann dagegen sehr hilfreich sein. Dabei ist zu beachten:
- Nicht der Vortrag kommentiert die Dias, sondern die Dias kommentieren das Vorgetragene. Bei einem guten Vortrag entwickelt der Redner einen Gedankengang zunächst ohne Dia. Die Hörer sind ganz beim Wort. Im Verlauf gibt der Redner dann ein Dia hinzu, so dass der Gedanke noch klarer wird. Völlig anders ist ein Vorgehen, bei dem der Redner das Dia nicht vorbereitet, sondern es einfach projiziert, anschaut und kommentiert. Die Aufmerksamkeit der Zuhörer liegt dann vor allem beim Dia. Ein Bild nimmt zunächst immer mehr Aufmerksamkeit in Anspruch als ein Wort. Das gilt insbesondere für ein textreiches und überladenes Dia. Wenn Diatext und Rede kaum etwas miteinander zu tun haben, kann nichts anderes geschehen als die Verwirrung der Zuhörer. Auch ist es ein Fehler zu meinen, mit Doppelprojektionen die doppelte Menge an Informationen vermitteln zu können. Meist ist das Gegenteil der Fall.
- Die Dias müssen übersichtlich und lesbar gestaltet sein. Ein Vortragsdia sollte in wenigen Sekunden visuell erfasst und verstanden werden können. Der Text ist auf wenige Worte zu beschränken. Als Richtlinie kann die 5 x 7-Regel gelten: Nur fünf Wörter im Titel, nicht mehr als sieben Zeilen, weniger als sieben Wörter in der Zeile. Nominalsätze sind günstiger als Verbalsätze (Statt "Bei der Durchführung der Therapie können ausgeprägte Nebenwirkungen auftreten" "Nebenwirkungen möglich"). Das Abfotografieren von Tabellen aus Büchern ist nahezu immer unsinnig. Wörter aus Großbuchstaben werden langsamer gelesen als Wörter mit Kleinbuchstaben. Sie sollten daher auch im Titel vermieden werden. Alle unnötigen Symbole und Zeichen sowie vielfältige Farben sind zu vermeiden. Der Name des Redners, das Datum der Herstellung und die Archivnummer gehören auf den Rahmen und nicht auf das Dia. Sie lenken ab, interessieren nicht und zeigen die kleinliche Angst des Redners vor Raubkopien seiner wertvollen Dias. Wer dennoch darauf besteht, sollte zumindest aktuelle Daten anführen. Besonders peinlich sind uralte Dias, die auch noch als solche bezeichnet sind ("Dr. Genial, April 1957, Dia Standardnummer 1957-13a").
- Die Dias müssen in der Sprache des Vortrags verfasst sein. Bei einem deutschen Vortrag sollten keine englischsprachigen Textdias verwendet werden. Dabei geht es nicht um die Unterschätzung der Sprachkenntnisse des Publikums, sondern um größtmögliche Kongruenz zwischen Rede- und Bildtext. Jede Inkongruenz verschwendet Aufmerksamkeit. Fremdsprachige Dias sind darüber hinaus eine Respektlosigkeit vor dem Publikum. Der gesprochene Kommentar lautet in der Regel: "Ich komme gerade aus Amerika, und wegen meiner vielfältigen Verpflichtungen konnte ich leider keine deutschen Dias mehr anfertigen." Gemeint ist: "Ich habe es nicht für nötig gehalten, mich auf diesen unwichtigen Vortrag gesondert vorzubereiten. Das tue ich nur für Vorträge in Amerika!"
- Nicht die Dias sind der Adressat des Vortrages, sondern die Zuhörer. Somit sollte der Vortragende nicht dem Publikum, sondern den Dias den Rücken zuwenden.
- Der Zeiger oder Laserpointer hat die Funktion, gezielt Dinge im Dia anzuzeigen. Er hat nicht die Funktion, durch ununterbrochenes Rasen über die Projektionsfläche Kopfschmerz und Schwindel zu erzeugen.
- Die Dias müssen geputzt sein. Mit Flecken oder Flusen auf Anzug oder Kleid würde man nicht auftreten. Flusen auf dem Dia werden jedoch hundertfach vergrößert noch viel genauer wahrgenommen.
- Alles, was im Dia gezeigt wird, muss im Vortrag angesprochen werden, sonst bräuchte es nicht im Dia zu erscheinen. Andererseits braucht bei weitem nicht alles, was gesagt wird, im Dia dargestellt zu werden.
Die Aufmerksamkeit der Zuhörer während eines Vortrags nimmt unvermeidbar ab. Dieser Aufmerksamkeitsverlust durch Ermüdung kann nicht grundsätzlich aufgehalten werden. Die Aufmerksamkeit der Zuhörer kann jedoch durch sogenannte Aufmerksamkeits-Schritte für eine gewisse Zeit wieder erhöht werden. Wer ohne Punkt und Komma wie ein Wasserfall redet, bei dem wird auch die Aufmerksamkeit des Publikums steil wie ein Wasserfall abfallen. Wer aber kurze Unterbrechungen einfügt, wird die Aufmerksamkeit zunächst zurückgewinnen. Dies kann beispielsweise in der Mitte eines längeren Vortrags dadurch geschehen, dass man die Diaprojektion für einen Moment unterbricht, das Licht anschalten lässt und etwas Zusammenfassendes oder Überleitendes sagt. Rhetorische Fragen, die man einige Sekunden unbeantwortet lässt, erhöhen ebenfalls die Aufmerksamkeit.
Die Hände gehören nicht
in die Hosentasche . . .
Auch das äußere Auftreten des Redners spielt eine Rolle. Die richtige Kleidung ist jene, die nicht auffällt. Ausgefranste Jeans, aber auch extravagante Designermodelle lenken vom Vortrag ab. Die Jacke sollte geschlossen sein. Der Knopf sollte nicht erst, wie häufig, auf dem Weg zum Pult geschlossen werden. Oft erwischt man auf der Treppe zum Pult das falsche Knopfloch, und die Jacke sitzt während des gesamten Vortrags schief. Die Hände des Redners gehören entweder auf das Pult oder verschränkt in Hüfthöhe vor den Körper zu gelegentlichem Gebrauch bei kleinen Gesten. Hände auf dem Rücken wirken distanziert, verschränkt auf der Brust wirken sie arrogant. Die Hände gehören vor allem nicht in die Hosentasche. Diese Haltung missachtet das Publikum. Den Dermatologen weist diese Unart ohnehin eher auf das Vorliegen einer unangenehmen Form der Tinea inguinalis hin.
Die vorgegebene Zeitdauer eines Vortrags muss unbedingt beachtet werden. Die genaue Einhaltung der Redezeit auf Kongressen ist ein Ausdruck des Respekts vor den Zuhörern, die möglicherweise schon auf den Nachredner warten, des Respekts vor dem Veranstalter oder Vorsitzenden, der den Ablauf der Sitzung geplant hat, und des Respekts vor dem Nachredner, der bei verspätetem Beginn in eine immer ungünstigere Situation kommt.
Was aber ist zu tun, wenn ein komplexes Thema zu behandeln ist und die Zeit zur Entfaltung nicht ausreicht? Zeitknappheit ist kein spezifisches Kongress- oder Vortragsproblem, sondern ein Grundproblem des Menschen überhaupt. Die gesamte Lebenszeit ist zu kurz. Die eigentliche Frage ist daher: Wie ist mit dieser Tatsache umzugehen? Die Lösung ist sicher nicht die, erst einmal die meiste Zeit mit Jammern zu verbringen ("Leider kann ich aufgrund der Kürze der Zeit die ungeheuere Komplexität des Themas nicht angemessen entfalten"), ebenso wenig wie trotzig und mit großer Brutalität die Redezeit maßlos zu überziehen. Ebenfalls keine Lösung ist es, durch immer schnelleres Reden und immer vollere Dias möglichst alles, was zum Thema bekannt ist, in die gegebene Zeit hineinzupressen.
". . . mach’s Maul auf, hör bald auf!"
Vielmehr muss die Frage beantwortet werden: Wie kann das Wesentliche so konzentriert dargestellt werden, dass es verständlich und im vorgegebenen Zeitraum vermittelt wird? Ein Mehr an Quantität ist nicht zwingend ein Gewinn. Vor allem mit Blick auf die Kunst wird evident, wie absurd der Gedanke ist, dass durch bloße Vermehrung von Quantität ein Kunstwerk gewinnt. Wäre ein Gemälde noch bedeutender, wenn es doppelte Ausmaße hätte, eine Symphonie bewegender, wenn sie länger dauerte, ein Gedicht tiefsinniger, wenn es mehr Strophen hätte?
All dies gilt auch für die Vortragskunst. Martin Luther, Kenner und Virtuose der Sprache, hat zur Maxime der Vortragstechnik gesagt: "Tritt frisch auf, mach’s Maul auf, hör bald auf!" Die grobe Missachtung der Redezeit kann furchtbare Folgen haben. Im November 1841 wurde Henry Harrison zum amerikanischen Präsidenten gewählt und hielt, wie auch heute noch üblich, am nächsten Tag bei eisiger Kälte vor dem Capitol eine Rede. Statt der üblichen Minuten sprach er jedoch Stunden. Am nächsten Tag erkrankte er an einer Pneumonie, an der er sogleich verstarb. Es gibt ihn, den Suizid durch maßlose Redezeitüberschreitung.


Zitierweise dieses Beitrags:
Dt Ärztebl 1998; 95: A-2081-2083
[Heft 36]


Literatur beim Verfasser


Anschrift des Verfassers
Priv.-Doz. Dr. med.
Matthias Volkenandt
Dermatologische Klinik
und Poliklinik der
Ludwig-Maximilians-Universität
Frauenlobstraße 9
80337 München