Lesenswertes
Was nützt die beste Behandlung, wenn niemand davon
spricht?
Ein Roman soll unterhalten, ein Sachbuch informieren; gute Lektüre
schafft es, beides zu vereinen. Warum sollte das nicht auch für die
Krankenhaus-Epikrise gelten, in der aus der Klinik für die ärztliche Praxis
berichtet wird? Man bedenke, daß der Arztbrief häufig einziger Kontakt zwischen
Klinik und Hausarzt ist und praktisch die Visitenkarte der Klinik
darstellt!
Das Sachgebiet, also der medizinische Teil, bereitet in der Regel
die geringsten Schwierigkeiten. Nur gelegentlich wird vergessen, daß die
Epikrise (von krisis = Urteil) die zusammenfassende, also auch "kritische"
Beurteilung eines Krankheitsverlaufes darstellen soll und nicht nur eine
unkritische Aneinanderreihung erhobener Befunde und durchgeführter Maßnahmen. In
den besonderen Fällen, bei denen es trotz zahlreicher Visiten und Konsile nicht
möglich war, über alle differentialdia-gnostischen und therapeutischen
Möglichkeiten ohne verbleibende Zweifel zu entscheiden, bietet die Epikrise die
letzte Gelegenheit, Ergänzungen und andere Gewichtungen zum bisherigen Konzept
hinzuzufügen und entsprechende Empfehlungen für den weiteren Krankheitsverlauf
auszusprechen. Wohl der Klinik, deren Stationsärzte noch Zeit und Raum haben,
mit Hilfe medizinischer Literatur ungestört einen Fall epikritisch
aufzuarbeiten! Fatal wird das Ganze nur dann, wenn der bereits entlassene
Patient erst durch das Diktat der Epikrise zu einem "Problemfall" wird. Es ist
aber allemal besser, das Problem spät als gar nicht erkannt zu haben.
Nichts fördert so sehr das Verständnis für Zusammenhänge wie
der Versuch, diese mündlich oder schriftlich festzuhalten und sie anderen zu
vermitteln. Von der Ausarbeitung eines Vortrages oder einer Epikrise profitiert
zuerst der Verfasser: "Wers nicht einfach und klar sagen kann, der soll
schweigen und weiter arbeiten, bis ers klar sagen kann." (Karl Popper)
Damit
auch die Adressaten zu ihrem Recht kommen, bedarf es gewisser Fähigkeiten in
Wort und Schrift. Über das leider recht niedrige Niveau ärztlicher
"Vortragskunst" ist hier bereits in ausgezeichneter Weise berichtet worden
(siehe DÄ 36/1998). Auch die schriftliche Mitteilung birgt Gefahren, womit weder
die Rechtschreibreform noch die Interpunktion gemeint sind, die von vielen
Kollegen beim Diktat sicherheitshalber "vergessen" werden im Vertrauen auf
Sprachgefühl und Zeichensetzung durch das Sekretariat. Gemeint ist ein
"moderner" Stil mit Fachchinesisch, Floskeln, aberwitzigen Abkürzungen sowie
"Substantivitis" und "Passivitis".
Fachjargon muß kritisch überdacht werden,
auch wenn seine Verwendung noch so verlockend erscheint, weil sie dem Benutzer
ein Insider-Gefühl vermittelt. Es empfiehlt sich Zurückhaltung bei Begriffen,
die im medizinischen Alltag (noch) nicht geläufig sind. Die Mitteilung einer
Klinik, daß "bei Zustand nach Schwindel mit nachfolgendem Sturz eine
Schwindeldiagnostik durchgeführt wurde" dürfte nicht für Klarheit sorgen. Auch
die Formulierung, daß "die Behandlung des Diabetes mellitus nach einem
Insulinschema erfolgte", beinhaltet so gut wie nichts.
Der Begriff der
"Digitalisierung", also die Gabe von Digitalis, ist in Deutschland gang und
gäbe; aber es ist schon nachdenkenswert, daß ein bestimmtes Medikament seit
Jahren auf jede Reklame verzichten kann, weil in Deutschland "marcumarisiert"
und nicht antikoaguliert wird. Ein Glück, daß man vorerst noch vor dem
"Eugluconisieren" und dem "Lasixifizieren" zurückschreckt. Die Frage, warum in
bestimmten Krankheitssituationen "antibiotisch abgedeckt" wird, kann
wahrscheinlich keiner der Abdecker in sprachlicher Hinsicht beantworten.
Dank
vieler etymologischer Wurzeln der "Medizinersprache" im Lateinischen und im
Griechischen (zum Beispiel "Epikrise") werden Anglizismen in ärztlichen Texten
noch nicht so maßlos verwendet wie allgemein in der deutschen Sprache. Man
trifft sich zwar zunehmend nicht mehr auf Sitzungen, sondern auf meetings oder
panel- und round-table-discussions, bei denen man statements abgeben kann,
eventuell sogar chairman sein darf, aber Arztbrief-Formulierungen wie "fehlender
good will des Patienten bei der diätetischen Behandlung" haben - zum Glück -
noch Seltenheitswert. Ebenso kann der sinnlose Gebrauch von Altsprachen zu
sprachlichem Ramsch führen: "Bei gleichzeitiger peripherer Ödembildung bestand
initial eine Exsikkose, weswegen wir eine bilanzierte Hydratation initiierten,
um mit diesem Procedere eine Regredienz der o. g. Ödeme zu erzielen."
Schopenhauer sagte: "Man brauche gewöhnliche Worte und
sage ungewöhnliche
Dinge." - Die Verkehrung ins Gegenteil wirkt lächerlich.
Selbst der sachlich
richtige Gebrauch des Lateinischen wirkt störend, wenn er den übrigen Sprachfluß
unterbricht, ohne zur Präzisierung des Textes beizutragen. Beispiele: "Der
Patient hatte Fieber, Kopfschmerzen und Emesis", "nach initialer Nulldiät
behandelten wir mit parenteraler Nutrition". Fremdwörter werden auf diese Weise
zu Fremdkörpern.
Abkürzungen können dann sinnvoll sein, wenn mehrsilbige
Wörter wiederholt im Text auftauchen. Niemand wird daran Anstoß nehmen, wenn sie
sich eingebürgert haben und jedem Arzt geläufig sind wie zum Beispiel der
Begriff EKG für das Elektrokardiogramm. Kürzel bleiben aber unverständlich, wenn
sie als Leser des Textes einen Experten im
speziell angesprochenen
Fachbereich voraussetzen. Eine Epikrise soll jedoch gegebenenfalls mehrere
weiterbehandelnde Ärzte verschiedener Fachrichtungen informieren. "AVK", "TNF"
oder "ZVK" sind dem Angiologen, Onkologen oder Intensivmediziner wohl vertraut,
nicht aber allen Medizinern, weshalb die erste Erwähnung "periphere arterielle
Verschlußkrankheit", "Tumornekrosefaktor" oder "zentraler Venenkatheter" lauten
muß.
Es ist also notwendig, nichtallgemeingültige Abkürzungen bei der ersten
Nennung in Klammern hinter dem eigentlichen Begriff einzufügen; dabei sollten
fremdsprachliche Abkürzungen mit dem deutschen Begriff benannt werden, zum
Beispiel "Chronisch-obstruktive Lungenkrankheit (COLD)". Wenn schon abkürzen,
dann richtig: Selbstverständlich ist es unzulässig, innerhalb desselben Textes
für einen Begriff wechselnde Abkürzungen zu verwenden. Das wäre der Fall, wenn
"COLD" auch in der (mißverständlichen) deutschen Version "COLE" verwendet oder
für den Begriff der "fetalen Herzfrequenz" einmal die deutsche Abkürzung (FHF)
und ein andermal die englische Form (FHR) eingesetzt würde. "Bili" und "Krea"
für Bilirubin und Kreatinin sind keine sinnvollen Abkürzungen, sondern
Wortverstümmelungen, die in einem schriftlichen Text nicht auftauchen
sollten.
Eine dem Wunsch nach Abkürzung entstammende Zusammenfassung von
Laborbefunden wie zum Beispiel die Nennung pathologischer "Nieren-" oder
"Leberwerte" ist sogar inhaltlich bedenklich, weil sie zu Fehldeutungen führen
kann: Sind mit pathologischen "Leberwerten" solche der Entzündung (zum Beispiel
GPT, GOT, GLDH), der Cholestase (zum Beispiel
Gamma-GT, AP) oder der
Leberfunktion (Cholinesterase, Prothrombin und andere) gemeint? Schließlich
können Abkürzungen den Sprachfluß stören: "dd vermuteten wir eine NW des wegen
HLP verabreichten CSEHemmers." Für Rätselfreunde: dd = differentialdiagnostisch,
NW = Nebenwirkung, HLP = Hyperlipoproteinämie. Kürze ist nicht gleich
Prägnanz.
Zu den Kardinalfehlern gehören auch unsinnige Verbverdoppelungen.
Man kann keine Tätigkeit tätigen, also beispielsweise Insulin-Gaben
verabreichen. Leider sind diese unsinnigen Wortverdoppelungen kein Spezifikum
der Medizinersprache. Bereits im täglichen Wetterbericht schneit es nicht,
sondern es geht Schneefall nieder.
Sinngemäß gehören in den Bereich der
Abkürzungen auch die Krankheiten oder Behandlungsmethoden, die nach ihren
Entdeckern oder Erfindern benannt werden wie Morbus Ménière, Whipple-Operation.
Derartige Begriffe sollten zumindest dann erklärt werden, wenn sie allein in
Europa verschiedene Namen tragen (Beispiel: Morbus Bechterew, M. Strümpell, M.
Pierre Marie, M. Parry) oder wenn sie sehr selten vorkommen: So sollte man zum
Beispiel dem Mißverständnis vorbeugen, daß ein Kartagener-Syndrom etwas mit
Karthago und den alten Römern zu tun hat.
Bei der schriftlichen Übermittlung
ärztlicher Befunde und Bewertungen muß man eine Synthese finden zwischen einer
dem Hausarzt schnell verständlichen Kurzinformation und einer bei komplizierten
Fällen notwendigen, nicht minder prägnanten, jedoch ausführlicheren Diskussion
des Krankheitsbildes. Der Gewinn von fünf Buchstaben ist es nicht wert, bei der
Diagnose auf Formulierungen wie "Ausschluß eines Herzinfarktes" oder "Ausschluß
einer Venenthrombose" zu verzichten und dafür unschöne Kürzel wie "Ausschluß
Herzinfarkt", "Ausschluß Venenthrombose" einzusetzen. Aber stichwortartig, zum
Teil tabellarisch, können Anamnese und Befunde wiedergegeben werden; das muß
allerdings geordnet vor sich gehen, die Ausführungen müssen zeitlich oder
krankheitsbezogen sortiert sein, weil sonst der Überblick schnell verlorengeht.
(Bewährt und empfehlenswert: Wiedergabe der vom Labor erhobenen Befunde - mit
Angabe der Normbereiche! - gesondert als Anlage zur Epikrise)
Fehlen können
beliebte Floskeln wie "Sehr geehrte Frau Kollegin/Sehr geehrter Herr Kollege,
die zurückliegende (!) Anamnese von Herrn Müller/Frau Schulze dürfen wir als
bekannt voraussetzen". Das klingt zum einen wie "Wir haben die Anamnese momentan
nicht parat. Sie werden sich aber sicherlich noch erinnern", zum anderen läßt
sich häufig mit der gleichen Wortzahl der zur Krankenhausaufnahme führende Grund
benennen. Auch andere stereotype Formulierungen in Arztbriefen entlarven sich
schnell als Worthülsen: "Selbstverständlich stehen wir Ihnen für Rückfragen
jederzeit gern zur Verfügung." Was soll dieser Satz in einer Epikrise nach
stationärer Behandlung wegen unkomplizierter "alltäglicher" Krankheitsverläufe
bewirken? Kollegialität unter Beweis stellen? Oder wissenschaftliche Potenz der
Klinik demonstrieren? Sinnvoll ist eine solche Formulierung, wenn zum Beispiel
eine komplizierte Therapie ambulant fortgeführt werden muß und dabei offene
Fragen oder unterschiedliche Auffassungen denkbar sind. Dann aber gehört in
diesen Satz nicht das floskelhafte "jederzeit", sondern die Angabe von
Telefonnummer und Uhrzeit, zu welcher der oder die Briefschreiber erreichbar
sind. Gedankenlos ist es, nach jedem Exitus letalis den Arztbrief mit den Worten
abzuschließen: "Wir bedauern, Ihnen keine erfreulichere Mitteilung über den
hiesigen Krankheitsverlauf machen zu können." Dieses routinemäßige "Bedauern"
ist unecht und wirkt - besonders nach dem Tod von Patienten, deren Prognose
bereits seit längerem infaust war - als deplazierte Demonstration von
"Betroffenheit". Wenn tatsächlich ein diesem Modewort entsprechendes Gefühl
aufkommt, sollte der "betroffene" Arzt in der Lage sein, dieses in geeigneten
Worten auszudrücken.
Es ist überflüssig, die Schilderung einer
Obstipationsbehandlung durch Wortblähungen zu "bereichern": Nach täglicher
Behandlung mit Einläufen ist es angebracht, diesen Sachverhalt wiederzugeben,
anstatt diffus davon zu reden, daß die Patienten erfolgreich "abführende
Maßnahmen erhielten". Noch schlechter ist es allerdings, entsprechend der
üblichen Mediziner-Umgangssprache davon zu reden, daß die Patienten erfolgreich
"abgeführt wurden". Diese Formulierung sollte einem Polizeibericht vorbehalten
bleiben.
Es klingt fürchterlich, wenn "der Patient durchgeröntgt" oder
"durchuntersucht" wurde. Auch hier ist Blähung im Spiel: Wahrscheinlich hat
irgendwann ein Arzt empfunden, daß die eingehende Untersuchung nicht genügend
gewürdigt würde, und sie deswegen zur "Durchuntersuchung" aufgepeppt. Es fehlt
nun noch die "Durch-undDurch-Untersuchung". In gleicher "Bläh-Manier" bemüht man
sich allseits nicht um Klärung, sondern stets um Abklärung. Zum Glück geht die
Sache noch nicht soweit, daß im Wetterbericht von "abgeklärtem Himmel"
gesprochen wird, und auch die klare Brühe erscheint noch nicht "abgeklärt" auf
dem Tisch!
Gutes Deutsch verwendet - möglichst kraftvolle - Verben, hält sich
mit dem Passiv zurück und vermeidet Substantive, wenn sie durch Verben ersetzt
werden können. Doch gerade in medizinischen Berichten kann man ein Syndrom der
"Substantivitis" und "Passivitis" erkennen. Wahrscheinlich kommt es zustande
durch das Bemühen, Inhaltsschwere zu betonen. Das Resultat ist häufig schwer
verständlich. Die Formulierung "Unter der Therapie zeigte sich eine Besserung in
bezug auf die Unruhe" ist derart holprig, daß man beim Lesen unruhig werden
kann.
"Textlichen Ballast"
abwerfen
Gern werden Sätze unnötig
gestreckt. So erhält etwa der Patient eine Diätberatung, statt besser zu
formulieren: "Der Patient wurde diätetisch beraten." Die Wahl des Passivs, etwa
in dem Satz "Nach konsiliarischer Abwägung der Therapieoptionen wurde gegen eine
Operation entschieden" kann wichtige inhaltliche Fragen offenlassen, in diesem
Fall: Wer hat entschieden und ist damit für die gewählte Therapie
verantwortlich?
Das Bemühen, eine medizinische Maßnahme aufzuwerten, führt
ebenfalls häufig zu Wortblähungen: Der Begriff einer "strukturierten
Diabetikerschulung" entspricht dem einer "mehrsprossigen Leiter". Aus dem
gleichen (falschen) Bemühen heraus entstehen die sogenannten "weißen Schimmel"
(Pleonasmus), wenn formuliert wird "unter antihypertensiver Behandlung kam es zu
normotensiven Blutdrücken". Vielfach kann textlicher Ballast abgeworfen werden,
wenn zum Beispiel von "stattgefundenen Untersuchungen", "entnommenen Biopsien"
oder "durchgeführten EKG" berichtet wird. Denn natürlich müssen Untersuchungen
zunächst stattgefunden haben, Biopsien entnommen und EKG abgeleitet worden sein,
bevor eine Beurteilung erfolgen kann. In die Kategorie "Textballast" gehören
auch Umschreibungen wie "die Patientin gab unter Infusionen eine klinische
Besserung an" oder "der Patient fühlte sich subjektiv besser". Als freundlicher
Mitmensch, der häufig "gute Besserung" wünscht, fragt man sich, was eine
"klinische Besserung" ist. Sollte sie nur während eines Klinikaufenthaltes
vorhanden sein? Und wäre es dann nicht besser, auch "ambulante Besserung" zu
wünschen? Und wie sollte ein Patient seine Besserung anders empfinden als
subjektiv? Oder ist es dem Schreiber nur nicht gelungen zu schildern, daß der
Patient eine Besserung verspürte, die (ärztlicherseits) nicht objektivierbar
war?
Dagegen tragen gute, gelegentlich bewußt pointierte Formulierungen zum
besseren Verständnis bei, so kürzlich im "Deutschen Ärzteblatt", wo zu lesen
war, daß die Therapie der Adipositas magere Ergebnisse aufweist. Das bleibt
haften! Der wichtige epikritische Teil des Arztbriefes muß sich nicht an
literarischen Vorbildern messen lassen. Aber er sollte ansprechend, und das
heißt flüssig, geschrieben sein sowie die Zusammenhänge auf den Punkt bringen.
Fehler in Grammatik, Rechtschreibung und Interpunktion sind besonders peinlich,
weil ein derart fehlerhafter Brief, meist unterzeichnet von Stations-, Ober- und
Chefarzt, verrät, daß drei Akademiker die deutsche Sprache nicht
beherrschen.
Quelle: Arztbriefe . . . nicht nur die der eigenen Abteilung!
Zitierweise dieses Beitrags:
Dt Ärztebl 1999; 96: A-2885-2890
[Heft
45]
Anschrift des Verfassers
Dr. med. Peter Semler
Chefarzt I. Innere
Abteilung
Wenckebach-Krankenhaus
Wenckebachstraße 23, 12099
Berlin