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Gesichtschirugie


Lesenswertes


Semler, Dr. med. Peter
Arztbriefe: Ende gut - Epikrise gut
Deutsches Ärzteblatt 96, Heft 45 vom 12.11.99, Seite A-2885 [THEMEN DER ZEIT: Aufsätze]
Volkenandt, Priv.-Doz. Dr. med.Matthias

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Was nützt die beste Behandlung, wenn niemand davon spricht?
Ein Roman soll unterhalten, ein Sachbuch informieren; gute Lektüre schafft es, beides zu vereinen. Warum sollte das nicht auch für die Krankenhaus-Epikrise gelten, in der aus der Klinik für die ärztliche Praxis berichtet wird? Man bedenke, daß der Arztbrief häufig einziger Kontakt zwischen Klinik und Hausarzt ist und praktisch die Visitenkarte der Klinik darstellt!
Das Sachgebiet, also der medizinische Teil, bereitet in der Regel die geringsten Schwierigkeiten. Nur gelegentlich wird vergessen, daß die Epikrise (von krisis = Urteil) die zusammenfassende, also auch "kritische" Beurteilung eines Krankheitsverlaufes darstellen soll und nicht nur eine unkritische Aneinanderreihung erhobener Befunde und durchgeführter Maßnahmen. In den besonderen Fällen, bei denen es trotz zahlreicher Visiten und Konsile nicht möglich war, über alle differentialdia-gnostischen und therapeutischen Möglichkeiten ohne verbleibende Zweifel zu entscheiden, bietet die Epikrise die letzte Gelegenheit, Ergänzungen und andere Gewichtungen zum bisherigen Konzept hinzuzufügen und entsprechende Empfehlungen für den weiteren Krankheitsverlauf auszusprechen. Wohl der Klinik, deren Stationsärzte noch Zeit und Raum haben, mit Hilfe medizinischer Literatur ungestört einen Fall epikritisch aufzuarbeiten! Fatal wird das Ganze nur dann, wenn der bereits entlassene Patient erst durch das Diktat der Epikrise zu einem "Problemfall" wird. Es ist aber allemal besser, das Problem spät als gar nicht erkannt zu haben.

Nichts fördert so sehr das Verständnis für Zusammenhänge wie der Versuch, diese mündlich oder schriftlich festzuhalten und sie anderen zu vermitteln. Von der Ausarbeitung eines Vortrages oder einer Epikrise profitiert zuerst der Verfasser: "Wer’s nicht einfach und klar sagen kann, der soll schweigen und weiter arbeiten, bis er’s klar sagen kann." (Karl Popper)
Damit auch die Adressaten zu ihrem Recht kommen, bedarf es gewisser Fähigkeiten in Wort und Schrift. Über das leider recht niedrige Niveau ärztlicher "Vortragskunst" ist hier bereits in ausgezeichneter Weise berichtet worden (siehe DÄ 36/1998). Auch die schriftliche Mitteilung birgt Gefahren, womit weder die Rechtschreibreform noch die Interpunktion gemeint sind, die von vielen Kollegen beim Diktat sicherheitshalber "vergessen" werden im Vertrauen auf Sprachgefühl und Zeichensetzung durch das Sekretariat. Gemeint ist ein "moderner" Stil mit Fachchinesisch, Floskeln, aberwitzigen Abkürzungen sowie "Substantivitis" und "Passivitis".
Fachjargon muß kritisch überdacht werden, auch wenn seine Verwendung noch so verlockend erscheint, weil sie dem Benutzer ein Insider-Gefühl vermittelt. Es empfiehlt sich Zurückhaltung bei Begriffen, die im medizinischen Alltag (noch) nicht geläufig sind. Die Mitteilung einer Klinik, daß "bei Zustand nach Schwindel mit nachfolgendem Sturz eine Schwindeldiagnostik durchgeführt wurde" dürfte nicht für Klarheit sorgen. Auch die Formulierung, daß "die Behandlung des Diabetes mellitus nach einem Insulinschema erfolgte", beinhaltet so gut wie nichts.
Der Begriff der "Digitalisierung", also die Gabe von Digitalis, ist in Deutschland gang und gäbe; aber es ist schon nachdenkenswert, daß ein bestimmtes Medikament seit Jahren auf jede Reklame verzichten kann, weil in Deutschland "marcumarisiert" und nicht antikoaguliert wird. Ein Glück, daß man vorerst noch vor dem "Eugluconisieren" und dem "Lasixifizieren" zurückschreckt. Die Frage, warum in bestimmten Krankheitssituationen "antibiotisch abgedeckt" wird, kann wahrscheinlich keiner der Abdecker in sprachlicher Hinsicht beantworten.
Dank vieler etymologischer Wurzeln der "Medizinersprache" im Lateinischen und im Griechischen (zum Beispiel "Epikrise") werden Anglizismen in ärztlichen Texten noch nicht so maßlos verwendet wie allgemein in der deutschen Sprache. Man trifft sich zwar zunehmend nicht mehr auf Sitzungen, sondern auf meetings oder panel- und round-table-discussions, bei denen man statements abgeben kann, eventuell sogar chairman sein darf, aber Arztbrief-Formulierungen wie "fehlender good will des Patienten bei der diätetischen Behandlung" haben - zum Glück - noch Seltenheitswert. Ebenso kann der sinnlose Gebrauch von Altsprachen zu sprachlichem Ramsch führen: "Bei gleichzeitiger peripherer Ödembildung bestand initial eine Exsikkose, weswegen wir eine bilanzierte Hydratation initiierten, um mit diesem Procedere eine Regredienz der o. g. Ödeme zu erzielen." Schopenhauer sagte: "Man brauche gewöhnliche Worte und
sage ungewöhnliche Dinge." - Die Verkehrung ins Gegenteil wirkt lächerlich.
Selbst der sachlich richtige Gebrauch des Lateinischen wirkt störend, wenn er den übrigen Sprachfluß unterbricht, ohne zur Präzisierung des Textes beizutragen. Beispiele: "Der Patient hatte Fieber, Kopfschmerzen und Emesis", "nach initialer Nulldiät behandelten wir mit parenteraler Nutrition". Fremdwörter werden auf diese Weise zu Fremdkörpern.
Abkürzungen können dann sinnvoll sein, wenn mehrsilbige Wörter wiederholt im Text auftauchen. Niemand wird daran Anstoß nehmen, wenn sie sich eingebürgert haben und jedem Arzt geläufig sind wie zum Beispiel der Begriff EKG für das Elektrokardiogramm. Kürzel bleiben aber unverständlich, wenn sie als Leser des Textes einen Experten im
speziell angesprochenen Fachbereich voraussetzen. Eine Epikrise soll jedoch gegebenenfalls mehrere weiterbehandelnde Ärzte verschiedener Fachrichtungen informieren. "AVK", "TNF" oder "ZVK" sind dem Angiologen, Onkologen oder Intensivmediziner wohl vertraut, nicht aber allen Medizinern, weshalb die erste Erwähnung "periphere arterielle Verschlußkrankheit", "Tumornekrosefaktor" oder "zentraler Venenkatheter" lauten muß.
Es ist also notwendig, nichtallgemeingültige Abkürzungen bei der ersten Nennung in Klammern hinter dem eigentlichen Begriff einzufügen; dabei sollten fremdsprachliche Abkürzungen mit dem deutschen Begriff benannt werden, zum Beispiel "Chronisch-obstruktive Lungenkrankheit (COLD)". Wenn schon abkürzen, dann richtig: Selbstverständlich ist es unzulässig, innerhalb desselben Textes für einen Begriff wechselnde Abkürzungen zu verwenden. Das wäre der Fall, wenn "COLD" auch in der (mißverständlichen) deutschen Version "COLE" verwendet oder für den Begriff der "fetalen Herzfrequenz" einmal die deutsche Abkürzung (FHF) und ein andermal die englische Form (FHR) eingesetzt würde. "Bili" und "Krea" für Bilirubin und Kreatinin sind keine sinnvollen Abkürzungen, sondern Wortverstümmelungen, die in einem schriftlichen Text nicht auftauchen sollten.
Eine dem Wunsch nach Abkürzung entstammende Zusammenfassung von Laborbefunden wie zum Beispiel die Nennung pathologischer "Nieren-" oder "Leberwerte" ist sogar inhaltlich bedenklich, weil sie zu Fehldeutungen führen kann: Sind mit pathologischen "Leberwerten" solche der Entzündung (zum Beispiel GPT, GOT, GLDH), der Cholestase (zum Beispiel
Gamma-GT, AP) oder der Leberfunktion (Cholinesterase, Prothrombin und andere) gemeint? Schließlich können Abkürzungen den Sprachfluß stören: "dd vermuteten wir eine NW des wegen HLP verabreichten CSEHemmers." Für Rätselfreunde: dd = differentialdiagnostisch, NW = Nebenwirkung, HLP = Hyperlipoproteinämie. Kürze ist nicht gleich Prägnanz.
Zu den Kardinalfehlern gehören auch unsinnige Verbverdoppelungen. Man kann keine Tätigkeit tätigen, also beispielsweise Insulin-Gaben verabreichen. Leider sind diese unsinnigen Wortverdoppelungen kein Spezifikum der Medizinersprache. Bereits im täglichen Wetterbericht schneit es nicht, sondern es geht Schneefall nieder.
Sinngemäß gehören in den Bereich der Abkürzungen auch die Krankheiten oder Behandlungsmethoden, die nach ihren Entdeckern oder Erfindern benannt werden wie Morbus Ménière, Whipple-Operation. Derartige Begriffe sollten zumindest dann erklärt werden, wenn sie allein in Europa verschiedene Namen tragen (Beispiel: Morbus Bechterew, M. Strümpell, M. Pierre Marie, M. Parry) oder wenn sie sehr selten vorkommen: So sollte man zum Beispiel dem Mißverständnis vorbeugen, daß ein Kartagener-Syndrom etwas mit Karthago und den alten Römern zu tun hat.
Bei der schriftlichen Übermittlung ärztlicher Befunde und Bewertungen muß man eine Synthese finden zwischen einer dem Hausarzt schnell verständlichen Kurzinformation und einer bei komplizierten Fällen notwendigen, nicht minder prägnanten, jedoch ausführlicheren Diskussion des Krankheitsbildes. Der Gewinn von fünf Buchstaben ist es nicht wert, bei der Diagnose auf Formulierungen wie "Ausschluß eines Herzinfarktes" oder "Ausschluß einer Venenthrombose" zu verzichten und dafür unschöne Kürzel wie "Ausschluß Herzinfarkt", "Ausschluß Venenthrombose" einzusetzen. Aber stichwortartig, zum Teil tabellarisch, können Anamnese und Befunde wiedergegeben werden; das muß allerdings geordnet vor sich gehen, die Ausführungen müssen zeitlich oder krankheitsbezogen sortiert sein, weil sonst der Überblick schnell verlorengeht. (Bewährt und empfehlenswert: Wiedergabe der vom Labor erhobenen Befunde - mit Angabe der Normbereiche! - gesondert als Anlage zur Epikrise)
Fehlen können beliebte Floskeln wie "Sehr geehrte Frau Kollegin/Sehr geehrter Herr Kollege, die zurückliegende (!) Anamnese von Herrn Müller/Frau Schulze dürfen wir als bekannt voraussetzen". Das klingt zum einen wie "Wir haben die Anamnese momentan nicht parat. Sie werden sich aber sicherlich noch erinnern", zum anderen läßt sich häufig mit der gleichen Wortzahl der zur Krankenhausaufnahme führende Grund benennen. Auch andere stereotype Formulierungen in Arztbriefen entlarven sich schnell als Worthülsen: "Selbstverständlich stehen wir Ihnen für Rückfragen jederzeit gern zur Verfügung." Was soll dieser Satz in einer Epikrise nach stationärer Behandlung wegen unkomplizierter "alltäglicher" Krankheitsverläufe bewirken? Kollegialität unter Beweis stellen? Oder wissenschaftliche Potenz der Klinik demonstrieren? Sinnvoll ist eine solche Formulierung, wenn zum Beispiel eine komplizierte Therapie ambulant fortgeführt werden muß und dabei offene Fragen oder unterschiedliche Auffassungen denkbar sind. Dann aber gehört in diesen Satz nicht das floskelhafte "jederzeit", sondern die Angabe von Telefonnummer und Uhrzeit, zu welcher der oder die Briefschreiber erreichbar sind. Gedankenlos ist es, nach jedem Exitus letalis den Arztbrief mit den Worten abzuschließen: "Wir bedauern, Ihnen keine erfreulichere Mitteilung über den hiesigen Krankheitsverlauf machen zu können." Dieses routinemäßige "Bedauern" ist unecht und wirkt - besonders nach dem Tod von Patienten, deren Prognose bereits seit längerem infaust war - als deplazierte Demonstration von "Betroffenheit". Wenn tatsächlich ein diesem Modewort entsprechendes Gefühl aufkommt, sollte der "betroffene" Arzt in der Lage sein, dieses in geeigneten Worten auszudrücken.
Es ist überflüssig, die Schilderung einer Obstipationsbehandlung durch Wortblähungen zu "bereichern": Nach täglicher Behandlung mit Einläufen ist es angebracht, diesen Sachverhalt wiederzugeben, anstatt diffus davon zu reden, daß die Patienten erfolgreich "abführende Maßnahmen erhielten". Noch schlechter ist es allerdings, entsprechend der üblichen Mediziner-Umgangssprache davon zu reden, daß die Patienten erfolgreich "abgeführt wurden". Diese Formulierung sollte einem Polizeibericht vorbehalten bleiben.
Es klingt fürchterlich, wenn "der Patient durchgeröntgt" oder "durchuntersucht" wurde. Auch hier ist Blähung im Spiel: Wahrscheinlich hat irgendwann ein Arzt empfunden, daß die eingehende Untersuchung nicht genügend gewürdigt würde, und sie deswegen zur "Durchuntersuchung" aufgepeppt. Es fehlt nun noch die "Durch-undDurch-Untersuchung". In gleicher "Bläh-Manier" bemüht man sich allseits nicht um Klärung, sondern stets um Abklärung. Zum Glück geht die Sache noch nicht soweit, daß im Wetterbericht von "abgeklärtem Himmel" gesprochen wird, und auch die klare Brühe erscheint noch nicht "abgeklärt" auf dem Tisch!
Gutes Deutsch verwendet - möglichst kraftvolle - Verben, hält sich mit dem Passiv zurück und vermeidet Substantive, wenn sie durch Verben ersetzt werden können. Doch gerade in medizinischen Berichten kann man ein Syndrom der "Substantivitis" und "Passivitis" erkennen. Wahrscheinlich kommt es zustande durch das Bemühen, Inhaltsschwere zu betonen. Das Resultat ist häufig schwer verständlich. Die Formulierung "Unter der Therapie zeigte sich eine Besserung in bezug auf die Unruhe" ist derart holprig, daß man beim Lesen unruhig werden kann.
"Textlichen Ballast"
abwerfen
Gern werden Sätze unnötig gestreckt. So erhält etwa der Patient eine Diätberatung, statt besser zu formulieren: "Der Patient wurde diätetisch beraten." Die Wahl des Passivs, etwa in dem Satz "Nach konsiliarischer Abwägung der Therapieoptionen wurde gegen eine Operation entschieden" kann wichtige inhaltliche Fragen offenlassen, in diesem Fall: Wer hat entschieden und ist damit für die gewählte Therapie verantwortlich?
Das Bemühen, eine medizinische Maßnahme aufzuwerten, führt ebenfalls häufig zu Wortblähungen: Der Begriff einer "strukturierten Diabetikerschulung" entspricht dem einer "mehrsprossigen Leiter". Aus dem gleichen (falschen) Bemühen heraus entstehen die sogenannten "weißen Schimmel" (Pleonasmus), wenn formuliert wird "unter antihypertensiver Behandlung kam es zu normotensiven Blutdrücken". Vielfach kann textlicher Ballast abgeworfen werden, wenn zum Beispiel von "stattgefundenen Untersuchungen", "entnommenen Biopsien" oder "durchgeführten EKG" berichtet wird. Denn natürlich müssen Untersuchungen zunächst stattgefunden haben, Biopsien entnommen und EKG abgeleitet worden sein, bevor eine Beurteilung erfolgen kann. In die Kategorie "Textballast" gehören auch Umschreibungen wie "die Patientin gab unter Infusionen eine klinische Besserung an" oder "der Patient fühlte sich subjektiv besser". Als freundlicher Mitmensch, der häufig "gute Besserung" wünscht, fragt man sich, was eine "klinische Besserung" ist. Sollte sie nur während eines Klinikaufenthaltes vorhanden sein? Und wäre es dann nicht besser, auch "ambulante Besserung" zu wünschen? Und wie sollte ein Patient seine Besserung anders empfinden als subjektiv? Oder ist es dem Schreiber nur nicht gelungen zu schildern, daß der Patient eine Besserung verspürte, die (ärztlicherseits) nicht objektivierbar war?
Dagegen tragen gute, gelegentlich bewußt pointierte Formulierungen zum besseren Verständnis bei, so kürzlich im "Deutschen Ärzteblatt", wo zu lesen war, daß die Therapie der Adipositas magere Ergebnisse aufweist. Das bleibt haften! Der wichtige epikritische Teil des Arztbriefes muß sich nicht an literarischen Vorbildern messen lassen. Aber er sollte ansprechend, und das heißt flüssig, geschrieben sein sowie die Zusammenhänge auf den Punkt bringen. Fehler in Grammatik, Rechtschreibung und Interpunktion sind besonders peinlich, weil ein derart fehlerhafter Brief, meist unterzeichnet von Stations-, Ober- und Chefarzt, verrät, daß drei Akademiker die deutsche Sprache nicht beherrschen.


Quelle: Arztbriefe . . . nicht nur die der eigenen Abteilung!


Zitierweise dieses Beitrags:
Dt Ärztebl 1999; 96: A-2885-2890
[Heft 45]


Anschrift des Verfassers
Dr. med. Peter Semler
Chefarzt I. Innere Abteilung
Wenckebach-Krankenhaus
Wenckebachstraße 23, 12099 Berlin